Niemand will eine Geschichte über den plötzlichen Kindstod hören. Niemand will darüber reden, dass kleine Kinder sterben. Niemand will darüber reden, dass Mütter sterben. Der Tod ist ein großes Tabu und am liebsten würden wir gerade diese sehr jungen Tode gar nicht erwähnen, als ob sie dadurch ungeschehen würden.
Genauso, wie ein kleines Kind denkt, es wäre unsichtbar, weil es die Augen verschließt, sehnen wir uns danach, Dinge ungeschehen zu machen, indem wir sie ausblenden.
Wir verschließen die Augen vor den verunfallten Kindern und jenen, die an Krankheiten sterben und viel zu frühzeitig aus dem Leben gerissen werden. Zu groß ist der Schmerz. Wessen eigentlich?
Als ich damals ganz unerwartet mein kleines Kind verlor war ich sehr überrascht. Es war doch alles in Ordnung gewesen? Die kritischen ersten drei Monate überstanden? Verwundert hielt ich mein lippenstiftgroßes Menschenkind in der hohlen Hand. Ein kleiner Junge. Ich nannte ihn Fabian. „Wohin bringt ihr ihn?“ fragte ich die Gesundheits- und Krankenpflegerin im Krankenhaus. „Kommt er in den Müll?“ Entrüstetes Kopfschütteln. Einfühlsam erklärte sie mir, dass alle Kinder unter einem gewissen Geburtsgewicht gemeinsam an einem bestimmten Ort bestattet werden. Das beruhigte mich sehr. Sie ließ mir so lange Zeit, mich zu verabschieden, wie ich es wollte. Eine sehr unwirkliche Situation. Ich machte einige Fotos von dem so kleinen, kalten Menschen, der so ganz anders aussah als meine anderen Kinder, als ich sie das erste Mal gesehen hatte. Dann ließ ich ihn gehen. Die Fotos habe ich nie wieder angeschaut, aber es ist tröstlich zu wissen, wo sie sind (Bilder_Fotos_Handy_2015).
Jede Trauer durchlebt viele Phasen und ist sehr individuell. Ich muss zugeben, dass ich persönlich um dieses Kind nicht so viel getrauert habe. Vielleicht, weil ich keine wirkliche Beziehung zu ihm aufbauen konnte? Vielleicht, weil ich kurz darauf wieder schwanger war? Vielleicht, weil ich Angst vor der bodenlosen Tiefe der Trauer habe? Es darf so sein, finde ich. „Trauer ist am selben Ort, wo auch die Liebe sitzt.“ Las ich neulich im Netz. Oder auch „Trauer ist Liebe“. Ein schöner Gedanke.
Ich bin bisher nicht sehr geübt gewesen, was das Trauern angeht. Das wird sich sicherlich ändern, je älter ich werde. Meinem Vater ein letztes Mal in seinem Tiefschlaf ins Gesicht zu schauen, war eine der schwersten Begegnungen meines Lebens. Nur im Schutze eines anwesenden Vertrauten war mir dies möglich. Fabian habe ich eher verwundert angeschaut und bei meiner 93-jährigen Oma war ich sehr gefasst. Meines Vaters Tod 2017 ließ mich erstmals ernsthaft dieses unendlich tiefe elementare Gefühl erfahren. Weinend und lachend erinnerte ich mich an ihn, folgte seinen Spuren, schreibend und installierend gedachte ich der tiefen Liebe zur ersten Bezugsperson im Leben. Noch heute brennen meine Augen manchmal unvermittelt, wenn ich an ihn denke. Geholfen hat mir, dass ich immer über ihn sprechen durfte, wenn mir danach war. Es ist noch nicht vorbei – wie gut!
Niemand mag Gevatter Tod. Und dennoch ist es ein Geschenk, wenn wir uns seiner Präsenz gewahr werden. Er gehört ganz selbstverständlich zu unserer Existenz und zeigt uns die unglaublich schützenswerte Kostbarkeit allen Lebens auf. Und deshalb schreibe ich als Autorin auch von Zeit zu Zeit Geschichten über diese ganz besonderen Momente. Damit es weitere Sprechanlässe gibt, diesen wichtigen „Gevatter“ (veraltet für Freund) wieder in unsere Mitte zu nehmen und ihm einen festen Platz zuzuweisen. Weilt er doch sowieso schon die ganze Zeit über unter uns!
Lassen Sie uns ruhig und offen bleiben für „Geschichten aus dem Totenreich“. Es gibt nichts zu verlieren – aber viel zu gewinnen. Etwa, dass wir uns intensive Gedanken darum machen, wie wir selbst das Sterben erleben wollen und aus diesem Wunsch auch anderen dabei behilflich sein möchten, in Würde sterben zu können? Dass wir all jenen mit unseren vereinten Kräften zur Seite stehen, die schon heute so hilfreich in der Sterbebegleitung tätig sind? Die nicht dem Leben mehr Tage verleihen, aber den Tagen mehr Leben? Es gibt viel zu tun – öffnen wir unsere Herzen.
„Mama ist jetzt bei den Dinosauriern“ – eine Geschichte um Tod und Leben (folgt im nächsten Blogpost)